Folge 15:
Sandra Seifert fühlt sich durch und durch als Frankfurterin und engagiert sich seit vielen Jahren für die Belange in ihrer Stadt. Geboren ist sie in Pasewalk und aufgewachsen im kleinen Armeestandort Eggesin. Mit 14 Jahren zog sie, aufgrund der Versetzung ihres Vaters, mit Ihrer Familie an den neuen Armeestandort nach Strausberg. Dort ging sie ein Jahr zur Schule. Ihr Direktor, der gleichzeitig ihr Russischlehrer war, erkannte schnell ihr großes Interesse für die russische Sprache und vermittelte sie in der 9. nach Frankfurt (Oder) in die Sprachklasse der damaligen Erweiterten Oberschule. Im Internat wird Sandra Seifert nicht nur früh selbstständig und erhält die Möglichkeit, neben Russisch auch Polnisch zu lernen, sondern verliert auch ihr Herz an die Stadt Frankfurt (Oder). Sandra Seifert bleibt in Frankfurt (Oder) und beginnt sich für ihre Stadt zu engagieren.
Sie gehörte Anfang der Neunziger Jahre zu den Gründungsstudenten der Europa-Universität Viadrina, beteiligte sich im Allgemeinen Studierendenausschuss, im Parlament und Verwaltungsrat des Studentenwerkes. Ihre ganze Energie floß in den Aufbau von Gremien und Initiativen an der Universität, es blieb wenig Zeit für ihr begonnenes Jurastudium. Über ihr politisches Engagement findet Sandra Seifert den Weg zur LINKEN, damals noch PDS. Sie verdiente von 1999 an ihren Lebensunterhalt mit kleinen Mitarbeiterstellen bei Landtags- und Bundestagsabgeordneten. In der Stadtverordnetenversammlung Frankfurt (Oder) ist sie seit 1998 aktiv und seit 2004 ist Sandra Seifert Vorsitzende des Jugendhilfeausschusses.
2012 kommt dann die berufliche Umorientierung und sie beginnt eine berufsbegleitende Ausbildung zur Erzieherin. Seit 2015 arbeitet Sandra Seifert in einer Frankfurter Kita und engagiert sich weiterhin für die Kinder- und Jugendpolitik ihrer Stadt. Dabei profitiert sie in ihrem Amt als Vorsitzende des Jugendhilfeausschusses sehr von ihren alltäglichen beruflichen Erfahrungen in der Arbeit mit Kindern und Familien.
Frau Seifert, Sie haben den gelben Ball von Frau Scheplitz zugespielt bekommen. Sie schätzt Sie als erfahrene und fachpolitisch starke Jugendhilfepolitikerin und möchte von Ihnen wissen, wo sie die wesentlichen Gestaltungsräume im Kinderschutz für den Jugendhilfeausschuss in Frankfurt (Oder) bzw. grundsätzliche die Jugendhilfeausschüsse sehen und welche „Rahmenbedingungen“ es für gelingendes Gestalten benötigt bzw. welche mitunter hinderlich sind?
In Frankfurt (Oder) gelingt die Zusammenarbeit zwischen Jugendhilfeausschuss und Jugendamt aus meiner Sicht sehr gut. Das Verhältnis der Fachkräfte in Verwaltung und Ausschuss ist geprägt von einem offenen und kollegialen Miteinander auf Augenhöhe, welches auch absolute Grundvoraussetzung für ein gelingendes Gestalten in der Kinder- und Jugendhilfe ist. Es geht nicht darum, überhastet aktionistische Parolen zu verkünden, sondern durch den Austausch und im Wechselspiel von Jugendamt und Jugendhilfeausschuss gemeinsame Lösungen zu finden. Und trotzdem gab es auch schon bessere Zeiten, weil auch in Frankfurt (Oder) der Kostendruck auf die Jugendhilfe immer größer wird und Ausgaben in diesem Bereich immer wieder neu gerechtfertigt werden müssen. Ich erlebe, auch wenn ich mich bemühe, es anders zu gestalten, dass die Verwaltungsmühlen oftmals langsam mahlen. Die schnelle Durchsetzung von Entscheidungen, die zur Verbesserung der Kinder- und Jugendhilfe in der Stadt beitragen würden, wird hierdurch behindert.
Als Vorsitzende des Jugendhilfeausschusses ist es, immer auch in Abstimmung mit der Verwaltung, meine Aufgabe, neben dem Befassen mit den anstehenden Tagesaufgaben auch strategische Themen zu setzen. Vor dem Hintergrund der Todesfälle von Kevin und Tobias im Jahr 1998 und mit Einführung des Bundeskinderschutzgesetztes standen wir im Jugendhilfeausschuss noch stärker vor der Aufgabe, etwas zu tun, vor allem im präventiven Bereich. Und das ist schwierig, denn der präventive Bereich kostet zunächst und lässt sich nur schwer abrechnen. So ist es durchaus ein Erfolg, dass wir es geschafft haben, mit allen relevanten Akteuren in der Stadt Vereinbarungen zum Kinderschutz abzuschließen. Im Jugendhilfeausschuss geht es regelmäßig darum zu schauen, wie diese Vereinbarungen nicht nur auf dem Papier bestehen, sondern auch in der täglichen Arbeit mit Leben gefüllt werden können. Das kann und muss noch besser gelingen.
Auch die Installation des durch das Jugendamt durchgeführten Babybesuchsdienstes ist für mich eine echte Frankfurter Errungenschaft. Den wenigsten ist bewusst, was das für ein tolles Angebot ist, obwohl wir wirklich fast alle Familien in Frankfurt (Oder) damit erreichen. Von vielen wird der Babybesuchsdienst belächelt und in seiner Wirkung in Frage gestellt. Die Frage, wie viele Kinderschutzfälle damit verhindert wurden und wie notwendig dieses Angebot vor dem Hintergrund der breiten Angebotspalette freier Träger wirklich sei, wurde erst kürzlich wieder in der Stadtverordnetenversammlung gestellt. Solche Fragen machen mich geradezu wütend und hier beziehe ich als Vorsitzende des Jugendhilfeausschusses klar Stellung. Es geht nicht darum, dass freie oder öffentlicher Träger es jeweils besser machen, sondern dass sich die Angebote ergänzen und aufeinander beziehen. Da sind wir in der Jugendhilfe oft noch zu bescheiden. Wir müssen viel stärker noch unsere Angebote „verkaufen“ und stärker ins öffentliche Bewusstsein tragen, getreu dem Motto: „Tue Gutes und rede darüber.“
Worin sehen Sie noch ein wichtiges Thema oder eine Entwicklung im Kinderschutz?
Ein Thema, was gerade auch im Rahmen von Wahlkämpfen viel diskutiert wird, ist das Thema Kinderarmut. Wobei ich in diesem Kontext lieber von Elternarmut sprechen würde. Denn es ist die Armut der Eltern, die sich auf deren Kinder und ihre Entwicklung und Chancen auswirken. In Frankfurt (Oder) und auch für mich persönlich als Vorsitzende des Jugendhilfeausschusses ist dieses Thema nach wie vor eine Baustelle. Wir sind 2008 deutschlandweit die erste Stadt gewesen, die als Kommune einen sogenannten Kinderarmutsbericht aufgelegt hat. Und gefühlt haben damals schon alle um das Ausmaß, was die Sozialindikatoren und die materiellen Möglichkeiten von Familien in Frankfurt (Oder) anbelangt, gewusst. Wir waren in den vergangenen Jahren immer schon ein Ort mit einer hohen Zahl an Empfängern von Sozialtransferleistungen. Und dennoch waren dann viele über die Zahlen erschrocken. Die Armutsquote lag damals bei über 30 Prozent und in einem der prekären Stadteile, Neuberesinchen, sogar zwischen 40 und 50 Prozent. Das hat natürlich etwas damit zu tun, dass unsere Stadt von einem ehemaligen Industriestandort zu einer fast reinen Verwaltungs- und Beamtenstadt geworden ist und Bemühungen der Frankfurter Politik, Projekte, wie zum Beispiel die Chipfabrik, in die Stadt zu holen, scheiterten. Zwar sind die Zahlen dann immer ein bisschen besser geworden, was aber auch mit dem Einwohnerschwund zu tun hatte. Im Jugendhilfeausschuss haben wir viel über die Ergebnisse diskutiert, haben uns auch im Bundesgebiet umgeschaut und entschieden, dass wir eine kommunale Präventionsstrategie gegen Armut brauchen. Wenn wir es schaffen, etwas gegen die Armut in der Stadtgesellschaft zu tun, reduzieren wir automatisch auch die Kinderarmut. Hier geht es um gleichberechtigte Teilhabe und Chancengerechtigkeit für Alle, unabhängig vom sozialen und finanziellen Vermögen der jeweiligen Familien. Uns ist es bis jetzt nicht gelungen – und insofern ist es wirklich eine Baustelle – auch Akteure außerhalb der Kinder-, Jugend- und Sozialhilfe für den sensiblen Umgang mit Armut in seinen Erscheinungsformen zu öffnen. Ich brauche aber gerade die anderen gesellschaftlichen Kräfte mit im Boot, um wirklich etwas zu verändern. Es wäre bspw. wichtig, die großen und kleinen Vermieter der Stadt zu gewinnen und auf eine gute soziale Durchmischung in den Wohnquartieren hinzuwirken oder Versorgungsunternehmen und Dienstleister. Und natürlich muss sich der Oberbürgermeister an die Spitze der Bewegung stellen. Der jetzige hat aktuell das Thema Präventionsstrategie gegen Armut noch nicht so ganz als Aufgabe für sich erkannt. Dass es geht, haben andere bundesdeutsche Kommunen wie zum Beispiel Braunschweig gezeigt. Es bleibt eine Aufgabe, die wir nur gemeinsam lösen können.
Welche Schlüsse ziehen Sie daraus? Was können Sie selbst für einen besseren Kinderschutz beitragen?
Für mich geht es im Kinderschutz in erster Linie nicht darum, Polizei oder Feuerwehr zu spielen, sondern einladende und Teilhabe ermöglichende Rahmenbedingungen für Kinder und ihre Eltern zu schaffen. Es geht darum, gleichberechtigte Zugänge für Eltern und ihre Kinder zu bestimmten Angeboten und Dienstleistungen unabhängig vom Geldbeutel und Status zu ermöglichen. Und das ist und bleibt städtische Aufgabe. Und da bin ich auch oft etwas ungeduldig. Ich finde, wir könnten an einigen Stellen schon schneller und inhaltlich weiter sein. Lippenbekenntnisse reichen nicht (mehr) aus. Wir müssen Eltern unterstützen, die alles dafür tun, dass ihre Familien finanziell abgesichert sind, die Zweit- und Drittjobs annehmen und gegebenenfalls trotzdem noch über das Amt aufstocken müssen. Ich sehe das täglich in meiner Arbeit in der Kita. Da erlebe ich Mütter und Väter, die ihre Kinder über viele Stunden in die Einrichtung geben, nur um der Arbeit hinterher zu fahren. Die Beziehung zwischen Eltern und Kind wird strapaziert und kann leiden und das Geld reicht dann trotzdem nicht. Hier sehe ich mich als Vorsitzende des Jugendhilfeausschusses in der Pflicht, gemeinsam etwas zu verändern und Kindern ein gutes und gedeihliches Aufwachsen zu ermöglichen.
Was war rückblickend ein besonderes Ereignis in Ihrer Arbeit?
Für die Stadt Frankfurt (Oder), die hier agierenden Fachkräfte des öffentlichen Trägers und der freien Träger und auch die Stadtöffentlichkeit waren die Todesfälle um die Jahrtausendwende ein einschneidendes Erlebnis. Da ziehe ich nach wie vor den Hut vor den Fachkräften und ihrem besonnenen Umgang. Der auch daraus verstärkte öffentliche Druck auf gute und „richtige“ Arbeit ist enorm.
Für mich persönlich war meine berufliche Neuorientierung rückblickend ein besonderes Ereignis. Das ermöglicht mir nochmal einen ganz neuen Blickwinkel auf die Kinder- und Jugendhilfe. Das macht es spannend: einerseits den Beruf in der Kita leben zu können und andererseits die beruflichen Erfahrungen und das Hintergrundwissen in meine politische Arbeit als Vorsitzende des Jugendhilfeausschusses einbringen und umsetzen zu können.
Was sind Ihre Visionen in Bezug auf den Kinderschutz und Ihre Arbeit?
Ich wünsche mir für die Zusammenarbeit Fachkräfte – Verwaltung – Politik, dass das Zuhören wieder besser gelingt und dass sich die Mitstreiter aus der Kinder-, Jugend- und Sozialhilfe gegenüber anderen Akteuren der Stadt noch besser als bisher erklären. Wir wollen nicht immer wieder aufs Neue die zumeist gesetzlich begründeten notwendigen Ausgaben für Unterstützungsangebote für Eltern und ihre Kinder rechtfertigen müssen. Es kann nicht sein, dass nach dem Haushaltsbeutel einer Kommune entschieden wird, ob der Bedarf einer Familie gedeckt werden kann (oder eben nicht). Hier braucht es ein stärkeres Selbstbewusstsein aller Fachkräfte. Und natürlich dürften genau diese Fachkräfte aus meiner Sicht immer noch besser verdienen. Aktuell wird ihre gesellschaftlich so wichtige Arbeit noch nicht genügend honoriert.
Kurz- bis mittelfristig möchte ich daran arbeiten, dass es uns gelingt, eine umfassende Strategie zur Bekämpfung von Armut in unserer Stadt aufzustellen. Letztlich fangen wir ja nicht bei Null an. Aber es geht darum, nochmal Aktivitäten und bereits etablierte Ansätze im Bereich der Kinder-, Jugend- und Sozialhilfe zu bündeln und andere Akteure mit ins Boot zu holen. Das wünsche ich mir bis 2020.
Sandra Seifert spielt den gelben Ball an das Mitglied der Kinderkommission des Deutschen Bundestages, Herrn Sven Lehmann, weiter.
Frau Seifert möchte von Herrn Lehmann wissen:
Welche Themen müssen aus ihrer Sicht in der kommenden Wahlperiode zur weiteren Verbesserung des Kinderschutzes als Beitrag für ein gesundes und sicheres aufwachsen von jungen Menschen in Deutschland angepackt werden?