Folge 16:
Sven Lehmann engagiert sich schon über viele Jahre für den Kinder- und Jugendschutz. Der heute 38 jährige Rheinländer wächst im Troisdorf auf und geht zum Studium der Politikwissenschaften nach Köln. Unter anderem arbeitet er dann im Landesjugendamt Rheinland und widmet sich gezielt Themen der Kinder- und Jugendhilfe. Familie spielt in seinem Leben nicht nur im Beruflichen eine zentrale Rolle. Sven Lehmann lebt mit seinem Mann in Köln und hat zwei Patenkinder.
Seit 2017 ist Sven Lehmann Mitglied des Deutschen Bundestages. Im Ausschuss für Arbeit und Soziales und seit Juni 2018 als Mitglied der Kinderkommission bewegt er Themen rund um die Kinder-und Familienpolitik, Sozial- sowie Queerpolitik.
Herr Lehmann, Sie haben den gelben Ball von Frau Seifert zugespielt bekommen. Sie schätzt die Arbeit der Kinderkommission des Deutschen Bundestages und möchte von Ihnen wissen, welche Themen aus Ihrer Sicht in der kommenden Wahlperiode zur weiteren Verbesserung des Kinderschutzes als Beitrag für ein gesundes und sicheres Aufwachsen von jungen Menschen in Deutschland angepackt werden müssen?
Das sind aus meiner Sicht drei Themen. Zum einen machen wir uns stark dafür, dass die Kinderrechte im Grundgesetzt verankert werden und somit das Grundprinzip der UN-Kinderrechtskonventionen, nämlich die vorrangige Berücksichtigung des Kindeswohls, gewährleistet wird. Es gibt den erklärten Willen, dass Kinderrechte einen Grundrechterang im Grundgesetzt bekommen und das daraus abgeleitet dann auch Gesetzesänderungen folgen müssen. Kinder sind keine kleinen Erwachsenen. Zwar gelten das Grundgesetz und die damit verbundenen Grundrechte auch für Kinder, aber an keiner Stelle unseres Grundgesetzes spiegelt sich wider, dass Kinder mit Blick auf Schutz, auf Förderung und auf ihre Beteiligung an allen sie betreffenden Angelegenheiten eigene, von denen der Erwachsenen zu unterscheidende und unabhängige Rechte haben. Deshalb ist es aus meiner Sicht überfällig, die Kinderrechte im Grundgesetz zu stärken und dort ausdrücklich zu benennen. Da sehe ich in dieser Wahlperiode gute Chancen, dass uns das gelingt und das wäre für die Rechte von Kindern und auch den Kinder- und Jugendschutz ein riesen großer Meilenstein.
Ein zweiter Scherpunkt ist der Schutz von Kindern vor allem vor sexualisierter Gewalt. Besonders wichtig ist mir in diesem Zusammenhang, dass auch weiterhin die gute und wichtige Arbeit des unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauches, Herrn Röhrig, unterstützt, finanziert und seine Kompetenz weiter ausgebaut wird. Dieses Thema berührt uns, die Grünen, ganz persönlich und wir haben dazu parteiintern intensive Debatten geführt und das Thema aufgearbeitet. Der aktuelle Bericht zu sexuellen Übergriffen und sexueller Gewalt in der katholischen Kirche machen deutlich, dass das Thema aktueller denn je ist und hier müssen wir weiter dran bleiben. Denn es gibt immer wieder Diskussionen darüber, dass Altersschutzgrenzen aufgehoben werden sollen. Aber Fakt ist, Kinder sind und bleiben in einem Abhängigkeitsverhältnis zu Erwachsenen. Und genau da ist die Stelle von Herrn Röhrig sehr, sehr wichtig.
Thema Nummer drei ist für mich im Zeitalter der Digitalisierung der Kinder- und Jugendschutz in den Medien. Denn auch Kinderschutz ist ja nichts Statisches und verändert sich so wie das Leben selbst. Ich habe selbst im Rahmen meiner Arbeit im Landesjugendamt Rheinland noch ein Projekt zum Kinder- und Jugendschutz und Medienkompetenz mit auf den Weg gebracht, wo es um die Qualifizierung von Fachkräften und Trägern der Kinder- und Jugendhilfe ging. Ich bin zudem sehr dafür, dass man die Anbieter von Smartphones und Internetplattformen dazu verpflichtet, Jugendschutz und Jugendschutzbestimmungen verbindlich einzuhalten. Noch viel wichtiger ist aber, dass Kinder und Jugendliche einen kompetenten und gleichzeitig kritischen Umgang mit Medien lernen. Das wird die Kinderkommission auch als Schwerpunktthema beschäftigen.
Worin sehen Sie noch ein wichtiges Thema oder eine Entwicklung im Kinderschutz?
Ein weiteres wichtiges Thema ist der Schutz von Kindern und die Stärkung der Rechte von Kindern im Kindschaftsverfahren. Wir erleben oft, das Kind in Trennungsfällen ihrer Eltern nicht ausreichend gehört werden. Es gibt zwar die Verpflichtung zu einem Verfahrensbeistand, aber viel zu wenig Kinder nehmen das in Anspruch beziehungsweise wird darüber nicht ausreichend informiert. Hier erleben wir immer wieder, dass Familienrichter, Gutachter und Verfahrensbeistände nicht ausreichend kinderpsychologisch geschult sind. Die Entscheidungen in familiengerichtlichen Verfahren und die Verfahrensgestaltungen selbst orientiert sich oft nicht am Kindeswohl und auch der Kindeswille findet nicht selten keine Beachtung. Man muss nur mal an die Gerichtsgebäude selbst denken, die in keinem Fall kindgerecht sind. All diese Aspekte tragen wir als Kinderkommission aktuell zusammen mit dem Ziel, Empfehlungen im Sinne der Kind für Bund und Ländern zu erarbeiten.
Aus meiner Sicht ist die Qualifizierung aller beteiligten professionellen Akteure in Kindschaftsverfahren ein wichtiges Mittel, um im Einzelfall das Kindeswohl richtig zu erkennen und mit Augenmaß eine passende dem Kindeswohl dienliche Entscheidung zu treffen. Die Trennung oder Scheidung der Eltern ist für ein Kind grundsätzlich eine belastende Situation, das habe ich selbst mit sieben Jahren erleben müssen. Wenn es dann im Rahmen des Kindschaftsverfahrens noch zu Auseinandersetzungen kommt, gehen Kinder ganz schnell unter die Räder. Hier müssen wir alles dafür tun, dass Kinder eine starke Zukunft haben.
Welche Schlüsse ziehen Sie daraus? Was können Sie selbst für einen besseren Kinderschutz beitragen?
Wir in der Kinderkommission arbeiten gerade aktiv an der Qualitätssicherung des Kindschaftsverfahrens. Die Beschlüsse die wir als Unterausschuss des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend fassen, werden schon sehr deutlich wahrgenommen. Vor allem auch, weil sie parteipolitisch nicht polarisieren. Wichtig ist allerdings nicht nur, was beschlossen wird, sondern was dann letztlich auch umgesetzt wird. Es geht nicht nur darum, nur Gesetzte zu Papier zu bringen. Vielmehr muss es darum gehen, dass die öffentlichen und freien Träger von uns auch bei der Umsetzung solcher Gesetze unterstützt werden.
Was war rückblickend ein besonderes Ereignis in Ihrer Arbeit?
Rückblickend ist das vielleicht auch etwas aus meiner eigenen Biographie. Meine Eltern trennten sich, als ich sieben war. Damals habe ich die Erfahrung machen müssen, wie es ist, wenn das Familiensystem, in das ich reingeboren wurde, sich verändert. Das hat mich schon sehr geprägt. Anders als ich es eben beschrieben habe, verlief die Trennung meiner Eltern allerdings einvernehmlich und auch das familiengerichtliche Verfahren und den Kontakt mit dem Jugendamt habe ich als ein positives Erlebnis in Erinnerung, da ich dort mit meinen Interessen gehört und einbezogen wurde und vor allem als Kind ernst genommen wurde. Heute weiß ich, dass es vielen Kindern nicht so geht.
Was mich heute sehr beschäftigt im Rahmen meiner sozialpolitischen Arbeit ist das ganze Thema Kinder- und Jugendarmut. Meine Mutter war nach der Trennung lange Zeit alleinerziehend. Und nicht nur damals war dies ein wahnsinniges Armutsrisiko. Wir haben in Deutschland aktuell um die drei Millionen Kinder die offiziell arm sind, noch viel mehr sind von Armut gefährdet. Und oft hat es damit zu tun, dass die Eltern sich trennen. Ich finde, dass jedes Kind, völlig unabhängig von Familie, Herkunft oder Geldbeutel ein recht auf soziale Teilhabe hat. Und deshalb arbeiten wir auch an einem Gesetz, dass Kinder nicht mehr wie kleine Erwerbstätige behandelt, die bei Erwerbslosigkeit der Eltern Teil des Systems werden. Es geht darum, die Ansprüche von Kindern und Jugendlichen sowohl materiell als auch bezogen auf Bildung, Kultur und Sport aus Sicht der Kinder zu wahren. Auch wir hatten nicht viel Geld. Das ist für Kinder und Jugendliche sehr prägend und hatte eine unglaubliche Reichweite. Es fängt bei keinem Geld für das Mittagsessen an und geht bis dahin, dass Kinder zu Geburtstagspartys kein Geschenk mitbringen können, weil es sich die Eltern nicht leisten können. Und manchmal fehlen die Kindern dann ganz. Das treibt mich gerade sehr.
Was sind Ihre Visionen in Bezug auf den Kinderschutz und Ihre Arbeit?
Meine Vision ist es, dass Kinder als eigene Persönlichkeiten mit eignen Rechten wahrgenommen werden. Das fängt schon bei der Berechnung der Regelsätze im Hartz-IV-Bereich an. Kinder zählen hier aktuell als kleine Erwachsene, aber es wird weder nach ihren Bedarfen gefragt, noch werden sie beteiligt. Das wird vielmehr abgeleitet aus irgendwelchen Tabellen. Dann wird hier mal ein Eis im Sommer gestrichen und für Windeln bleiben dann noch vier Euro im Monat. Wenn man darüber nachdenkt, sind das wirklich absurde Rechnungen, die wirklich nichts mit der Lebenswirklichkeit von Kindern zu tun haben. Und das ist schon eine Vision von mir, über entsprechende Gesetzesänderungen die Situation von Kindern in Deutschland zu verbessern und sie konsequenter zu beteiligen. Da hat sich in den letzten zwanzig Jahren schon einiges getan. So werden Kinder beispielsweise beim Bau von Buslinien, wie ich es selbst miterleben durfte, gefragt. Allerdings ist diese Form der Beteiligung nicht durchweg zu beobachten. In politischen Entscheidungsprozessen wie zum Beispiel zu Umwelt- und Luftverschmutzung wird die Perspektive von Kindern nicht einbezogen, auch wenn Kindern unmittelbar von diesen Themen betroffen sind. Es ist nach wie vor ein dickes Brett, die Perspektive von Kindern ins Bewusstsein zu rücken.
Sven Lehmann spielt den gelben Ball an Frauke Mahr, Gesamtkoordinatorin der Lobby für Mädchen in Köln, weiter. Herr Lehmann schätze die Arbeit von Frau Mahr sehr, da sie sich sehr stark für das Empowerment von Mädchen einsetzt, Schutzräume für Mädchen bietet und zudem eine sehr gute politische Öffentlichkeitsarbeit macht.
Herr Lehmann möchte von Frau Mahr wissen:
Wie kann aus Ihrer Sicht die Politik den Schutz gerade von Mädchen und jungen Frauen stärken und auf welche gesetzlichen Lücken stoßen Sie als Expertin in Ihrer täglichen Arbeit?