Folge 9:
Rike Schulz ist Diplom Pädagogin, Systemische Therapeutin und WenDo-Trainerin mit langjähriger Berufserfahrung in der Gruppenarbeit mit Mädchen. Mit dem Angebot der WenDo-Kurse in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe, in Schulen, in der interkulturellen Arbeit, sowie in der Behindertenhilfe, leistet sie bis heute einen wichtigen Beitrag im Kinderschutz.
Ihre Ausbildung zur WenDo-Trainerin hat sie zeitgleich mit ihrem Pädagogik Studium 1988 in Marburg absolviert. Seit 1991 lebt Rike Schulz in Berlin und bietet als freiberufliche Trainerin ihre Kurse in Berlin und im Land Brandenburg an und ist immer mobil dorthin unterwegs, wo sie gebraucht wird. Da es keinen festen Arbeitsstandort für die Trainerin gibt, treffen wir uns in Berlin am Victoria-Luise- Platz, an einem sonnigen Herbsttag, wo sie mit ihrem Fahrrad ankommt und uns sehr aufgeschlossen und mit einem offen Lachen begrüßt.
Frau Schulz, Sie bekamen den gelben Ball zugespielt von Petra Gerlach und Anna Brockmann, beide arbeiten im Kinderklub „Unser Haus“ in Potsdam, Stadtteil Schlaatz, wo Sie einen WenDo-Kurs mit Mädchen zwischen 6 und 12 Jahren geleitet haben. Die Projektleiterin des offenen Kinder Treffpunkts sieht in dem WenDo-Training ein wichtiges Instrument zum Schutz vor Grenzüberschreitungen, indem es die Mädchen in ihren Gefühlen stärkt und damit einen wichtigen Aspekt in der Präventionsarbeit im Kinderschutz leisten kann.
Petra Gerlach und Anna Brockmann haben folgende Fragen an Sie: Welche Rolle spielen die eigenen Grenzen und die Achtung dieser in den WenDo Trainings und für die Selbstbehauptung von Mädchen im Allgemeinen?
WenDo wurde in den 80iger Jahren von Frauen für Frauen entwickelt und später für Mädchen weiterentwickelt. Mädchen präventiv in ihrem Selbstwertgefühl zu stärken und zu befähigen, sich besser gegen sexualisierte Gewalt zu schützen, ist Ziel meiner Arbeit. Indem ich meine beruflichen Erfahrungen als Pädagogin, Systemische Therapeutin und als WenDo-Trainerin miteinander verknüpfe, entwickele ich die Kurs Angebote ständig weiter und biete seit 1997 WenDo-Trainings auch für Mädchen und Frauen mit Behinderungen an. Als Trainerin kann ich auf unterschiedliche körperliche und geistige Voraussetzungen und Einschränkungen der Sinneswahrnehmungen gezielt in einem WenDo-Kurs eingehen. Die eigenen Grenzen wahrzunehmen und auch nach außen erkennbar zu machen, ist ein Schwerpunkt des WenDo-Trainings. Übungen zu Atem, Stimme und Körpersprache, Rollenspiele, sowie Gespräche und gruppendynamischen Erfahrungen, sind neben Kampftechniken, Inhalte der WenDo-Kurse. Das eigene Verhalten, eigene Bedürfnisse und Ängste zu verstehen, anzunehmen und nach außen zu kommunizieren, schützt Mädchen nicht nur, sondern setzt auch Energien und Potentiale frei, sich in ihrer Persönlichkeit frei entfalten zu können. Ein würdevoller Umgang mit den eigenen Grenzen, steht deshalb im Mittelpunkt des WenDo-Trainings. Mit den Körperübungen, Stimmübungen, Rollenspielen und Kampfsporttechniken sollen die Mädchen lernen, sich bei Grenzüberschreitungen und Angriffen selbstsicher verhalten und ggf. auch wehren zu können. Das die Mädchen beim WenDo-Training und in der Gruppe vor allem viel Spaß, Freude und Leichtigkeit erleben, ist mir ebenfalls ein wichtiges Anliegen.
Was ist aus Ihrer Sicht ein aktuelles Thema im Kinderschutz?
Die Prävention gegen Gewalt und sexualisierte Gewalt. Kinder zu stärken und Erwachsene für das Thema zu sensibilisieren, ist ein wichtiges Thema im Kinderschutz. Besonders im Behindertenbereich sehe ich hier noch einen entwicklungsbedarf. Präventionsprogramme, wie es sie auch an Schulen gibt, sollten auch in Behinderteneinrichtungen selbstverständlich sein. Prävention ist v.a. die Verantwortung der Erwachsenen. Daher sollten Kurse zur Stärkung von Kindern nicht isoliert stattfinden. Erwachsenen müssen gleichzeitig in präventiven Erziehungsmethoden fortgebildet werden, und darin, Hilfe-Ruf-Signale von Kindern zu verstehen und kompetent zu helfen.
Welche Rolle oder welchen Beitrag leistet das WenDo-Training im Kinderschutz?
Die Rollenspiele sind Alltags- und Gefahrensituationsbezogen. In der Gruppe wird gemeinsam diskutiert, wie „was würdet ihr machen in dieser Situationen?“. Es bleibt auch nicht aus, dass Kinder von eigenen Gewalterfahrungen oder Grenzüberschreitungen sprechen. In diesen Fällen gehe ich immer noch einmal persönlich mit dem Kind ins Gespräch, und bespreche, was zu tun ist, welche Hilfemöglichkeiten oder Ansprechpartner es für das Kind gibt und an wen es sich wenden kann, dafür beziehe ich – je nach Situation – die/den zuständige_n Betreuer_in, Lehrer_in oder die Eltern mit ein, damit die Situation nicht untergeht und jemand an dem Kind dranbleibt. Ich habe auch schon Meldung beim Jugendamt gemacht wegen Kindeswohlgefährdung. Ein therapeutisches Gespräch führe ich jedoch nicht, das WenDo-Training hat kein therapeutisches Konzept. Gruppengespräche, Selbstverteidigung und Selbstbehauptung sind Inhalte des WenDo-Trainings. In der Gruppe lernen die Mädchen, eigene Grenzen wahrzunehmen und nach außen deutlich zu machen. Die Mädchen lernen eigene Gefühle ernst zu nehmen und auszusprechen, was sie möchten und was sie nicht möchten. Auch über Ängste wird in der Gruppe gesprochen, es gilt hier, diese nicht „weg zu trainieren“, sondern Angst als ein wichtiges Signal zu erkennen, sich zu schützen oder sich Hilfe zu holen. Die Angst sehen wir im WenDo-Training als eine wichtige „Verbündete“. Die WenDo-Kurse sind ressourcenorientiert und auch Wertschätzung spielt hier eine zentrale Rolle. In der Gruppe und im Besonderen bei den Partnerinnenübungen lernen die Kinder rücksichtsvoll zu sein, d.h. bei den Übungen darauf zu achten, bin ich zu schnell, zu heftig und höre ich das „Stopp“ der anderen wahr. Das „Nein“ Sagen können, ist eine positive Fähigkeit, also keine Schwäche, sondern eine Stärke. Damit leistet das WenDo-Training vor allem einen präventiven Beitrag im Kinderschutz, Mädchen vor sexualisierter Gewalt, vor Grenzüberschreitungen und gegen andere Gewalt zu schützen, indem sie gestärkt und befähigt werden, sich selbst zu behaupten oder sich selbstbewusst Hilfe zu holen und Grenzen zu setzen.
Was war ein wichtiges Ereignis oder Erlebnis in Ihrem Leben, privat oder beruflich?
Eine 9 Jährige erzählte im WenDo-Training, nachdem ich das Thema sexualisierte Gewalt mit entsprechender kindgerechter Literatur enttabuisiert hatte, von ihrem sexuellen Missbrauch durch ihren jugendlichen Cousin. Wir übten im Rollenspiel, wie sie gemeinsam mit ihrer Freundin, die auch im Kurs anwesend war, mit ihrer Mutter darüber sprechen könnte. Ich gab dem Mädchen noch einen Brief an die Mutter mit, den ich zuvor mit ihr besprach. Die Situation endete so, dass das Mädchen, wie verabredet, beim nächsten Training von ihrer Mutter abgeholt wurde und wir zu dritt alles besprachen. Darauf hin konfrontierte die Mutter den Cousin und dessen Eltern und er durfte nicht mehr bei ihnen übernachten und nicht mehr mit dem Mädchen alleine sein. Das Mädchen war sehr glücklich darüber. Die Mutter auch.
Ein Blick in die Zukunft: Was wünschen Sie sich für die Kinderschutzarbeit? Haben Sie einen Wunsch oder eine Vision?
Das Mädchen und Jungen weniger in dem klassischen Rollenverhalten sozialisiert werden. Bis heute gibt es immer noch ein Rollenverständnis, indem der Junge stark sein muss und Mädchen nach wie vor eher schön sein sollen. Modellvorstellungen sind nicht selten Ursache dafür, dass Mädchen ihren Körper und damit sich selbst nicht mehr annehmen können. Mädchen sollen gestärkt werden, auch schreien und sich körperlich durchzusetzen und Jungen darin ermutigt werden, auch über ihre Gefühle zu reden.
Was stärkt Sie selbst in dieser Arbeit? Was motiviert Sie, diese Arbeit schon so viele Jahre zu machen?
Die Arbeit gibt mir sehr viel Kraft. Die Kinder sind stolz über Ihre Erfolge und reagieren oft mit Begeisterung. Da macht das Arbeiten einfach Spaß. Auch ist die Möglichkeit, an der ständigen Weiterentwicklung des WenDo-Trainings mitzuwirken, mein Wissen und meine Erfahrungen auch weitergeben zu können und die Kurse entsprechend mit neuen Ideen zu gestalten, Grund dafür, meine Arbeit als abwechslungsreich zu erleben.
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Rike Schulz spielt den Gelben Ball weiter an Anke Heiden, Geschäftsführerin der Aktiven Naturschule Prenzlau.
In der Aktiven Naturschule Prenzlau hat Rike Schulz immer wieder WenDo-Kurse gegeben und eine gute fachliche Zusammenarbeit erlebt.
Rike Schulz will von Anke Heiden wissen:
Wie würden Sie den Zusammenhang zwischen gewaltfreier Erziehung, Prävention und Umgang mit Kindeswohlgefährdung an Ihrer Schule beschreiben?
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