Der Gelbe Ball

aufgefangen von:
Petra Gerlach

Datum: Mai 2013

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Folge 8:

Petra Gerlach ist von Anfang an dabei. Seit der Eröffnung im Sommer 1996 arbeitet sie im Kinderklub „Unser Haus” im Potsdamer Stadtteil Schlaatz. Zusammen mit Projektleiterin Anna Brockmann erzählt sie hier von ihrer Arbeit.

Den Kinderklub „Unser Haus“ gibt es seit 1996. Hierher kommen regelmäßig um die 30 Jungen und Mädchen täglich. Petra Gerlach und Anna Brockmann leisten offene Treffpunktarbeit und betreuen nachmittags Kinder im Alter zwischen sechs und 12 Jahren. Träger vom Kinderklub ist der Förderverein für Jugend und Sozialarbeit e. V.

Petra Gerlach lernte Erzieherin auf Umwegen. Dabei hatte sie den Wunsch, mit Kindern zu arbeiten, eigentlich schon immer gehabt. Doch in der achten Klasse bestand sie den Berufseignungstest nicht. Der bestand unter anderem in einem Stimmtest. „Sport frei!“ sollte sie rufen. „Ich sollte das brüllen. Richtig ruppig. Aber ich wollte doch mit Kindern arbeiten!“ So lernte sie zunächst etwas anderes: Wirtschaftskaufmann bei der DEFA. Nach der Wende begann die 43-jährige ihre Erzieherausbildung. Ihr Anerkennungsjahr absolvierte sie beim Aufbau der Kontakt- und Beratungsstelle im Schlaatz und wechselte danach zur benachbarten Kinder-Kreativ-Werkstatt, aus der 2000 – nach einem Streik der Kinder, „die mehr wollten als immer nur Basteln“ – der Kinderklub hervorging. Petra Gerlach betreut im Kinderklub den offenen Bereich am Nachmittag.

Anna Brockmann ist seit zwei Jahren Projektleiterin im Kinderklub. Vor ihrem Umzug nach Potsdam arbeitete die Diplom-Sozialpädagogin zunächst in einem Kinderheim in Bremen. Die nächste Station war ein Schulverweigerer-Projekt in Hamburg. Als sie nach Potsdam kam, war die 38-jährige offen, in welchem Bereich sie gehen würde: Kinder und Jugendarbeit sollte es bleiben und die Arbeitszeiten mussten stimmen. Denn mittlerweile war sie Mutter einer kleinen Tochter geworden. Im Kinderklub passte dann alles: Besonders schätzt Anna Brockmann bei ihrer Arbeit die Lebendigkeit und den Teamgeist der Kollegen.

 

Frau Gerlach, Frau Brockmann, Sie bekamen den Gelben Ball zugespielt von Renate Michael, der Koordinatorin des Präventionsbereiches der Polizeiinspektion Potsdam. Frau Michael hat folgende Fragen an Sie: Was empfinden Sie, wenn Sie sich die Entwicklung des Hauses in den letzten fünf Jahren anschauen? Und was sind Ihre Wünsche für die Zukunft?

Petra Gerlach: Heute haben wir weitaus mehr Kinder hier als vor fünf Jahren. Es sind so 25 Kinder, die jeden Tag zu uns kommen. Und im Winter kamen an manchen Tagen bis zu 50 Kinder. Da wurde es hier schon mal etwas eng.

 

Worauf führen Sie zurück, dass immer mehr Kinder in den Kinderclub kommen?

Petra Gerlach: Unsere Räume sind spannender geworden. Früher hatten wir nur einen großen Raum, in dem sich alles abspielte. Jetzt – nach dem Umzug vom Erd- ins Obergeschoss – sind es zwei Räume. Außerdem nutzen wir den Sportraum und das Billardzimmer vom Familienzentrum. Neu ist auch der Computerraum. Insgesamt haben wir unser Angebot erweitert, z. B. machen wir jetzt Ferienfahrten mit den Kindern, nach Möglichkeit zweimal im Jahr. Dabei achten wir darauf, den finanziellen und den bürokratischen Aufwand für die Familien gering zu halten.

Anna Brockmann: Eine wichtige Entwicklung in den letzten Jahren ist auch unser Projekt „Bisamkids“, bei dem wir uns um die Kinder kümmern, die besondere Aufmerksamkeit brauchen.

Petra Gerlach: Für „Bisamkids“ haben wir gekämpft und gekämpft. Vor zweieinhalb Jahren hat es dann endlich geklappt. Wir bekamen eine zusätzliche Stelle mit 25 Wochenstunden. Der neue Kollege kümmert sich um vier bis sechs Kinder samt ihrer Familien. Das passiert in Gruppenarbeit, es wird aber auch viel Einzelarbeit und Familienarbeit angeboten. Erlebnispädagogik ist ein weiterer wichtiger Ansatz: Wir sind oft draußen; machen mit den Kindern Ausflüge, gehen ins Kino.

Anna Brockmann: Der Fokus bei „Bisamkids“ liegt auf Kinder, die besondere Aufmerksamkeit benötigen: Kinder, die Gefühle unkontrolliert ausdrücken, z. B. über Gewalt oder Wutanfälle, aber auch Kinder, die sich oft zurückziehen oder gemobbt werden. Früher konnten wir die Kinder nicht unterstützen und mussten bei Eskalation Hausverbote aussprechen. Jetzt ist es uns möglich, ganz anders auf sie einzugehen. Dafür war vorher überhaupt keine Zeit. Wir haben „Bisamkids“ in Kooperation mit dem Jugendamt entwickelt. Grundlage sind die Hilfen zur Erziehung. Es ist heute ein Modellprojekt, an dem auch andere Einrichtungen interessiert sind. Denn Kinder mit besonderem Unterstützungsbedarf gibt es überall.

 

Was wünschen Sie sich zukünftig für Ihre Einrichtung?

Anna Brockmann: Wir brauchen noch immer eine Stelle zusätzlich. Aktuell haben wir zwei Personalstellen, die wir auf drei Mitarbeiter aufteilen. Am Nachmittag arbeiten wir mit zwei Betreuern. Doch wir sind dermaßen auf BFD-ler, FSJ-ler, MAE-Kräfte und Praktikanten angewiesen! Wir haben ganz viele Ideen und auch Anregungen von den Kindern, für die uns jetzt zu wenig Zeit bleibt.

 

Was ist aus Ihrer Sicht ein aktuelles Thema im Kinderschutz?

Anna Brockmann: Wir beobachten seit einem Jahr stark sexualisiertes Verhalten bei Mädchen. Die jüngsten sind zehn Jahre alt. Das Stichwort heißt: Berlin – Tag & Nacht. Das ist eine Fernsehsendung, die um 19 Uhr auf RTL läuft. Diese Serie ist überhaupt nichts für Kinder: Wie dort miteinander geredet wird, welche Vorstellungen über Beziehung und Freundschaft vermittelt werden… – Bitte einmal angucken! Im Kinderklub erleben wir Kinder, die versuchen ihre Idole aus der Sendung zu imitieren. Viele schauen sich die Serie an – die Kinder und auch die Eltern. Ich empfehle wirklich allen Pädagogen, sich diese Sendung anzuschauen. Denn dort sieht man, wie Kinder, die mit solchen Sendungen in Berührung kommen, sich die Welt der Erwachsenen vorstellen.

Petra Gerlach: Es gab auch eine Zeit, in der Ritzen ein akutes Thema war… Die Schwerpunkte wechseln. Wir hatten auch schon eine Phase, in der Kinder mit Selbstmord drohten. Die sagten: „Ich geh mich jetzt umbringen!“ Oder es ging um Telefonsex. Junge Kinder, schon die Zehnjährigen, riefen bei einer Hotline an, über die sie an Männer weitergestellt wurden.

 

Wie reagieren Sie darauf?

Anna Brockmann: Diese auffälligen Verhaltensweisen sind ja ein Hilfeschrei. Die Frage ist: Was tun? Wir haben einen Kooperationsvertrag mit der Potsdamer Betreuungshilfe. Die unterstützen uns bei Fragen rund um den Bereich Kinderschutz bzw. Kindeswohlgefährdung. Alle sechs Wochen machen wir eine Fallkonferenz und Supervision. Wir haben uns zu den unterschiedlichen Themen – Selbstmord, Ritzen – jeweils Experten eingeladen.

Petra Gerlach: Wir machen außerdem alle zwei Wochen eine Kinderkonferenz. Da besprechen wir die Themen mit den Kindern und versuchen, sie dort abzuholen, wo sie aktuell stehen. Wir entwickeln Projekte, in denen wir schwierige Themen spielerisch aufgreifen. Jetzt zum Beispiel haben wir ein Theaterprojekt gemacht, bei dem wir mit den Kindern Berlin – Tag & Nacht  nachgespielt haben. – Weggucken ist das Schlimmste, was man machen kann. Auch wenn man im ersten Moment vielleicht nicht 100 Prozent richtig reagiert. Wichtig ist, dass man den Kindern die eigene Beobachtung mitteilt und sagt „Du, ich mache mir  Sorgen.“

 

Was war ein wichtiges Ereignis oder Erlebnis in Ihrem Leben, privat oder beruflich?

Anna Brockmann: Es gibt so viel… Hier im Kinderklub ist mein Schlüsselerlebnis, dass ich merke, wie wichtig ein starkes Team ist. Egal, wie widrig die Umstände sind oder die Arbeitsbedingungen oder wie herausfordernd das Klientel: ein kompetentes Team findet Lösungen und nimmt Probleme als Herausforderung an und entwickelt neue Ideen. Im Team macht die Arbeit Spaß, und man entwickelt sich weiter. Die Arbeit im Kinderklub ist hierarchiearm, wir sind auf gleicher Augenhöhe. Der Austausch mit den Kollegen ist sehr intensiv; auch durch die Supervision und die Fallkonferenzen. Mir gefällt, dass alle Kollegen mit Leidenschaft dabei sind und den Wunsch haben, den Arbeitsbereich und sich weiterzuentwickeln.

Petra Gerlach: Ein wichtiges Erlebnis im Kinderklub war für mich ein Fall von Verdacht auf sexuellem Missbrauch. Wir haben damals mit allen gesprochen, also auch mit der Mutter. Wir mussten sie mit dem Verdacht konfrontieren. Es war dann eine gute Erfahrung, als die Mutter trotzdem weiterhin mit uns zusammenarbeiten wollte. – Wenn die Mutter uns weiterhin vertraut, dann haben wir eine gute Arbeit gemacht.

Anna Brockmann: Ja, wir haben mit Familien eine gute Arbeitshaltung entwickelt: Transparenz, Offenheit, nichts verdeckt melden. Klar, bei Fallunsicherheiten lassen wir uns beraten. Aber wir versuchen in grösstmöglicher Transparenz zu agieren und möglichst nichts verdeckt oder hinter dem Rücken der Familien zu unternehmen.

 

Ein Blick in die Zukunft: Was wünschen Sie sich für die Kinderschutzarbeit? Haben Sie einen Wunsch oder eine Vision?

Petra Gerlach: Ich finde, dass zu viele Einrichtungen an einer Familie „herumdoktern“: Da ist der Familienhelfer drin. Dann kriegen die Eltern einen Anruf von der Schule, dann noch von uns. Ich würde mir wünschen, dass frühzeitig eine Helferkonferenz zusammenkommt: Schule, Schulsozialarbeit, wir, das Jugendamt – die müssen schneller an einem Tisch zusammensitzen.

Anna Brockmann: Ich wünsche mir einen anderen Blick auf Familien: stärker orientiert an den Ressourcen. Da ist nämlich ganz viel; die Kinder haben so viele Stärken! Und auch die Eltern. Leider fokussieren sich Fachkräfte oft auf die Defizite, die dadurch – so unsere Erfahrung – nur noch viel größer werden. Ein ressourcenorientierter Blick wäre für alle hilfreich. Nicht nur für die Kinder und Eltern, sondern auch für die Fachkräfte. Ich bin mir sicher, dass dann auch die Lehrer nicht so frustriert wären. Insgesamt sollten Angebote stärker an Bedürfnissen ausgerichtet sein; Unterricht prozessorientierter und flexibler gestaltet werden: Was interessiert eine Gruppe? Mit Spaß lernen Kinder einfach mehr. Wir erleben, wie ausgehungert die Kinder sind nach Erleben und nach Praktischem.

 

Nächste Folge

Petra Gerlach und Anna Brockmann spielen den Gelben Ball weiter an Rike Schulz, Wendo-Trainerin in Berlin.

Rike Schulz zeigt Mädchen im Wendo Training wichtige Instrumente zum Schutz vor Grenzüberschreitungen. Das Training stärkt die Mädchen in ihren Gefühlen und kann somit ein wichtiger Aspekt für die Präventionsarbeit im Bereich Kinderschutz sein.

Die Mitarbeiterinnen des Kinderklub wollen von Rike Schulz wissen:

Welche Rolle spielen die eigenen Grenzen und die Achtung dieser in den Wendo-Trainings und für die Selbstbehauptung von Mädchen im allgemeinen?

Sie wollen das Interview mit Rike Schulz nicht verpassen? Dann melden Sie sich hier für unseren kostenlosen Info-Service an.


Interview:
Ina Rieck, Start gGmbH

Foto:
Jenny Troalic, Start gGmbH

Ein Kommentar

  • Sabrina Schmidt

    Hallo Petra, ich denke mal du wirst dich nicht an mich errinnern, aber ich war damals auch jeden tag bei dir mit katharina =)
    mitlerweile bin ich 25 Jahre alt und wohne leider nicht mehr in potsdam…
    die zeit war wunderschön… du hast zu einer guten kindheit beigetragen… danke dafür.. bleib gesund und munter..
    vielleicht schreibst du ja zurück

    ganz ganz liebe grüße sabrina

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