Der Gelbe Ball

aufgefangen von:
Dr. Hans-Dirk Lenius

Datum: Februar 2013

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Folge 6:

Dr. Hans-Dirk Lenius leitet die Grund- und Oberschule Lehnin „Heinrich Julius Bruns“ im Landkreis Potsdam-Mittelmark. Die Schule ist auf Facebook vertreten. Privat bevorzugt Dr. Lenius jedoch andere Kommunikationskanäle.

In der Gemeinde Kloster Lehnin arbeitet Dr. Lenius bereits seit sechs Jahren als Schulleiter. Seine vorherigen Stationen: Nach der Wende Aufbau des Espengrund-Gymnasiums in Babelsberg, kurzer Ausflug ins Brandenburger Bildungsministerium, seit 1993 Schulleitung an verschiedenen Standorten. Und dazwischen immer wieder Weiterbildungen: Promotion in Geschichte der Erziehung, Lehramtsprüfung Pädagogik und ein Lehramtsstudium der Informatik. Fächer von Dr. Lenius sind Mathe, Physik, Pädagogik und Informatik. In diesem Schuljahr unterrichtet er Mathe in der sechsten Klasse und Physik im Leistungskurs der zehnten.

Die Schule ist seit zwei Jahren eine vereinigte Grund- und Oberschule. Aktuell besuchen 560 Schülerinnen und Schülern die Ganztagschule. Der weitläufige Schulcampus beherbergt neben den beiden Gebäuden der Grund- und Oberschule noch weitere Einrichtungen: Kita, Eltern-Kind-Zentrum, Jugendzentrum, Bibliothek, Sportplatz sowie zwei multifunktionale Sporthallen.  Die räumliche Nähe erleichtert die Kooperation. So betreut der Leiter des Jugendzentrums regelmäßig den Freizeitraum der Schule, den die Schüler  während der großen Pausen nutzen, z. B.  zum Kickern oder Billardspielen. Im Grundschulbereich kooperiert die Schule mit der integrierten Tagesbetreuung Lehnin. Seit jüngster Zeit arbeitet die Schule auch enger mit der Kinderschutzbeauftragten der GFB (Gemeinnützige Gesellschaft zur Förderung Brandenburger Kinder und Jugendlicher mbH) zusammen.

 

Dr. Lenius, in der letzten Folge hat Frauke Frehse-Sevran, die Leiterin des Jugendhilfeverbunds beim GFB, den Ball an Sie weitergespielt. Frau Frehse-Sevran hat den Eindruck, das Thema Kinderschutz und Kindeswohlgefährdung rufe an Schulen allgemein und auch an Ihrer Schule sehr viel Angst und Unsicherheit hervor. Sie möchte von Ihnen wissen: Welche Auswirkungen hat ein Kinderschutzfall auf den Ablauf an Ihrer Schule?

Wir hatten kürzlich einen Fall an unserer Schule, der in Richtung Kindeswohlgefährdung ging. Das Vorgehen der beteiligten Fachkräfte war völlig unkoordiniert und unstrukturiert. Jeder hat das gemacht, was er aus dem Bauch für richtig gehalten hat. Es gab viele Parallelwege und unterschiedliche Meinungen, was notwendig wäre, z.  B. ob Polizei eingeschaltet werden müsste, oder, oder…  Aus diesem Durcheinander ist dann die Idee gewachsen, die verschiedenen Ebenen an einen Tisch zusammen zu holen. So kam es vor einigen Wochen zum ersten gemeinsamen Gespräch zwischen der Kinderschutzbeauftragten der GFB, der Schulsozialarbeiterin, unseren Sonderpädagogen, der Schulleitung sowie der Vertreterin vom Jugendamt. In dieser Runde haben wir abgestimmt, wie wir künftig in Verdachtsfällen von Kindeswohlgefährdung vorgehen werden.

 

Wie sieht das Verfahren aus, das Sie in dieser Runde vereinbart haben? Gibt es dazu ein schriftliches Konzept?

Wir stehen da noch am Anfang, ein schriftliches Konzept gibt es nicht. Aber wir haben nun immerhin eine Schrittfolge festgelegt, wie zu verfahren und wer zu informieren ist, je nachdem, wo das Problem bekannt wird. Zum Beispiel bei der Schulsozialarbeiterin: Die Schulsozialarbeiterin unterliegt einer gewissen Schweigepflicht auch uns, der Schule, gegenüber. Wenn sich ihr ein Kind anvertraut, wird sie zunächst mit der Kinderschutzbeauftragten die folgenden Schritte abstimmen. Die Schule und das Jugendamt werden von Seiten der Kinderschutzbeauftragten nur informiert, wenn sie und die Schulsozialarbeiterin zu der Einschätzung kommen, dass dies notwendig ist. Und wenn ich – oder ein Lehrer – von einem Verdachtsfall hören würde, würde ich mich wiederum zunächst mit unserer Schulsozialarbeiterin ins Vernehmen setzen.  Gleichzeitig ist es meines Erachtens wichtig, die Eltern mit ins Boot holen und Absprachen niemals hinter dem Rücken der Eltern zu treffen. Es sei denn, man hat den dringenden Verdacht, es geht tatsächlich um böswillige häusliche Gewalt. Dann besteht sofort die Pflicht, zusammen mit Jugendamt oder Polizei Schritte einzuleiten. Doch dieses Herausnehmen des Kindes aus dem häuslichen Umfeld mit Hilfe der Polizei darf nur die absolute Ausnahme sein. Denn die Gefahr, dass ich ein Kind traumatisiere, ist sehr groß an dieser Stelle. – Ich denke, dass diese professionale Absprache, wie wir sie jetzt haben, nicht an allen Schulen gang und gäbe ist.

 

Wissen die Schülerinnen und Schüler, an wen sie sich wenden können, wenn sie Kummer haben oder in Not sind?

Wir gehen nicht in unsere Klassen und sagen den Schülern: „Wenn Ihr zuhause geschlagen werdet, dann…“  So macht man das ja nicht. Aber die Kinder wissen, dass es Ansprechpartner gibt. Das ist vor allem die Schulsozialarbeiterin. Sie ist jeden Tag ab halb acht an der Schule und immer für die Schüler ansprechbar. In der ersten bis vierten Klasse ist die Schulsozialarbeiterin nicht ganz so bekannt. Dort, bei den ganz Kleinen, sind vor allem die Klassenleiter und deren Stellvertreter die maßgeblichen Bezugspersonen. Ebenso wie die Bezugserzieher, die ab der vierten Stunde in den Klassen sind. – Doch – Gott sei Dank – gibt es so viele Fälle nicht. In diesem Jahr hatten wir zwei kinderschutzrelevante Fälle. Und der letzte Fall davor liegt bereits vier Jahre zurück.

 

Werden Sie sich künftig auch fallunabhängig zusammensetzen – in Ihrer neuen Runde vom Schulcampus oder in einem regionalen Arbeitskreis?

Mit Sicherheit. Davon gehe ich aus. Über einen Arbeitskreis im Landkreis ist mir allerdings nichts bekannt. Und selbst wenn es ihn geben würde, wäre die Arbeit sicher nicht so gut, weil die Schulen davon keine Kenntnis haben. – Was soll so ein Arbeitskreis machen? Fallbeispiele besprechen? Oder soll er dazu dienen, die einzelnen Bereiche zu vernetzen? Es muss auch eine gewisse Verbindlichkeit dahinterstehen. Wer soll z. B. diesen Arbeitskreis leiten? Da muss man genau überlegen, was Sinn macht. Im Kinderschutz sind ja so viele verschiedene Ebenen involviert:  viele freie Träger, Gemeinde, Landkreis, das Land …. Föderalismus macht Vernetzung und Kooperation nicht unbedingt leichter.

 

Wo sehen Sie das aktuell wichtigste Thema im Kinderschutz?

Wenn man das Problem weiterfasst, dann gehört das alltägliche Mobbing zwischen den Schülern unbedingt dazu. Wir beobachten vor allem in den siebten und achten Klassen, dass die zwischenmenschlichen Beziehungen der Schüler nicht auf dem Level sind, wie sie sein sollten. Natürlich, die Schüler sind in der Pubertät, aber trotzdem muss das alles im Rahmen bleiben! Potenziert wird das Problem durch unsere Schulsystemstruktur; der Schnitt aus dem Übergangsverfahren der siebten Klasse ist ziemlich schlimm. Da holen wir aus den verschiedenen Grundschulen die Kinder zusammen an die Oberschule, und hier müssen sich die Schüler in ihrer ohnehin schwierigen pubertären Phase in einer neuen Klasse neu strukturieren. Das heißt, man potenziert die Probleme, die ohnehin schon durch das Alter da sind. Viel sinnvoller wäre es, die Kinder deutlich länger zusammenzuhalten und den Schnitt einfach auszulassen. Das Auseinanderdifferieren der Kinder ist aus meiner Sicht eine einzige Katastrophe! Ich bin ein Verfechter der gemeinsamen Schulbildung von der ersten bis zur zehnten Klasse. Hinzukommt der gesamt Bereich des Cyber-Mobbing auf den sogenannten „sozialen“ Plattformen – die eigentlich asozial sind. Dort schaukeln sich die Kinder mit den banalsten Sachen hoch, bilden Gruppen…  Es ist eine virtuelle Welt, die über die eigentliche übergestülpt wird. Ich habe den Eindruck, dass eine Vielzahl von Kindern mit diesem Medium nicht umgehen kann.

 

Wie reagieren Sie auf Cybermobbing an Ihrer Schule?

Zum einem können die Schüler während der Klassenleiterstunden darüber sprechen.  In einigen Klassen gibt es auch einen Klassenrat. Zum anderen versuchen wir, durch Prävention in Zusammenarbeit mit unserer Schulsozialarbeiterin und der Präventionsabteilung der Polizei, etwas dagegen zu machen.  Zum Beispiel sind wir mit den siebten und achten Klassen in einen Film über eine Wiener Schule gegangen, der drastisch und zugleich emotional sehr ansprechend zeigt, wohin Mobbing führen kann. In dem Film endet das Kind auf der Schiene. – Aber insgesamt  fühle ich mich beim Thema Cybermobbing wie der Zauberlehrling: Man kann der Sache nicht Herr werden. Man kann nur versuchen, die Sache etwas zu dämpfen und zurückzunehmen.

 

Haben Sie einen Account bei Facebook?

Ich hatte mich bei Facebook angemeldet, um das mal zu testen. Doch dann kamen jeden Tag bis zu 40 Freundschaftsanfragen. Schüler wollten mich zum „Hero vom Netz“ machen – zu dem mit den meisten Freundesklicks. Doch diese Pseudo-Freundschaften, die einen wie ein Schneeball überrollen, haben mich so genervt, dass ich meinen Account bald wieder gelöscht habe. Facebook ist nicht mein Medium.

 

Was war ein wichtiges Ereignis oder Erlebnis in Ihrem Leben, privat oder beruflich?

Jeder Tag ist für sich ein Höhepunkt…  Wichtig für mich persönlich war eine Erfahrung mit meinem ersten Kollegium in Potsdam. Ich war damals noch relativ jung, 33 Jahre alt, als mich ein Großteil der Kollegen bat, mich für eine Leitungsfunktion zu bewerben. Das war für mich eine richtig tolle Situation. Ein weiteres wichtiges Ereignis war mein Abschluss des Informatik-Studiums. Den hab ich mit 44 Jahren gemacht, neben meiner Arbeit als Schulleiter. Sich da nochmal durchzuquälen! Jedes Wochenende, auch in den Ferien habe ich gesessen und gepaukt. Anfangs fiel mir das sehr schwer, doch am Ende bin ich als Jahrgangsbester herausgegangen. Ansonsten gab es natürlich noch viele weitere Up and Downs, vor allem Rückschläge im Zusammenhang mit Bewerbungen. Zurzeit haben wir auch wieder so eine Situation hier an der Schule: Der Krankenstand ist wahnsinnig hoch. Knapp ein Drittel der Kollegen ist aus den verschiedensten Gründen nicht im Unterricht. Ich fühle mich oft wie Don Quichote, der gegen Windmühlen kämpft: Man pulvert Energie in das System rein, und es kommt einfach nichts zurück. Wir haben zehn Kollegen, die langfristig ausfallen, weil sie schwerkrank sind. Da sollte man sich schon mal überlegen, wo möglicherweise die Ursachen liegen.

 

Ein Blick in die Zukunft: Was wünschen Sie sich für die Kinderschutzarbeit? Haben Sie einen Wunsch oder eine Vision?

Das Schönste wäre natürlich, wenn wir Kinderschutz nie wieder brauchen würden. Aber das ist natürlich eine Utopie. – Ich wünsche mir, dass alle Fachkräfte, die mit Kindern arbeiten, vernetzt und vertrauensvoll zusammenarbeiten. Es muss klare Absprachen geben zwischen Schule, dem Träger der Schulsozialarbeit und dem Jugendamt. Außerdem wünsche ich mir, dass viel mehr Geld investiert wird für die Sozialarbeit an Schulen. Es gibt ja nicht mal an jeder Schule einen Sozialarbeiter, und selbst der ist ein Tropfen auf dem heißen Stein.

 

Nächste Folge

Dr. Hans-Dirk Lenius spielt den Gelben Ball weiter an Frau Renate Michael, Hauptkommissarin in Potsdam:

Ich schätze Frau Michael als kompetente Ansprechpartnerin. Sie leistet seit vielen Jahren Aufklärungsarbeit an Schulen zu verschiedenen Themen wie z. B. Cybermobbing.

Dr. Hans-Dirk Lenius will von Renate Michael wissen:

Ich beobachte mit Sorge den Rückbau des Präventionsbereichs bei der Polizei. Wie sollte der Bereich Prävention aussehen, damit Schule und Polizei sinnvoller kooperieren? Und wie kann es gelingen, das Thema direkter an Schule und Eltern heranzutragen?


Interview:
Ina Rieck, Start gGmbH

Foto:
Dennis Sacher, articulabor

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