Folge 7:
Die Erste Kriminalhaupt-Kommissarin Renate Michael koordiniert den Präventionsbereich der Polizeiinspektion Potsdam. Gewalt und Drogen sind ihre Themen. Ihr Arbeitsplatz ist nicht der Schreibtisch. Meist ist sie unterwegs, zum Beispiel an Schulen und Kitas.
Renate Michael ist seit 40 Jahren mit Leib und Seele Polizistin. In der Präventionsarbeit hat sie mehr als 25 Jahre Erfahrung. Sie sagt: „Das ist das Faszinierende an der Prävention: Du merkst gleich an Deinem gegenüber, taugt das was, oder kannst Du abtreten. Ganz ehrlich sind Kinder: Die machen keinen Hehl daraus; die sagen gleich, was Sache ist.“ Auch privat ist Renate Michael ein ausgefüllter Mensch. „Ich bin glücklich verheiratet, habe eine erwachsene Tochter und gesunde Enkelkinder.“
Die Kriminalbeamtin arbeitet mit Kindern und Jugendlichen im Alter zwischen neun und 21 Jahren. Ihr Arbeitsbereich ist zum einem die Drogenprävention. Hier geht sie zum Beispiel auf Elternversammlungen und Lehrerfortbildungen, klärt dort über illegale Drogen auf. Die Stoffkunde ist dabei ein wichtiges Thema: Was sind die gängigsten Drogen, wie sehen die aus? Lehrer wollen außerdem wissen, wie sie auf Drogen an der Schule reagieren können und zu was sie gesetzlich verpflichtet sind. Eltern hingegen interessiert vor allem die Frage, woran sie erkennen, ob ihr Kind Drogen konsumiert. Ihr „zweites Standbein“ hat Frau Michael in der Gewaltprävention. Hier betreut sie in Grundschulen ein Programm gegen sexuelle Gewalt gegen Kinder. Mobbing ist ein weiteres Thema, das Renate Michael bereits bei den ganz jungen Schülern aufgreift. Ab der sechsten Klasse kommt noch das Thema Cybermobbing hinzu. Und mit Jugendlichen spricht Frau Michael u. a. über Straftaten wie Raub, Körperverletzung, Erpressung, Bedrohung: über rechtliche Konsequenzen sowie richtiges Verhalten in solchen Gewaltsituationen als Geschädigter oder Zeuge.
Frau Michael, Sie bekamen den Gelben Ball zugespielt von Dr. Lenius, dem Schulleiter am Campus Kloster Lehnin. Dr. Lenius beobachtet mit Sorge den Rückbau des Präventionsbereichs bei der Polizei. Seine Frage an Sie: Wie kann der Bereich Prävention aussehen, dass Schule und Polizei trotzdem sinnvoll kooperieren? – Zunächst: Teilen Sie diese Sorge?
Jein. Sowohl als auch, muss man sagen. Seit Ende 2011 gilt für den Präventionsbereich, dass Stellen nicht mehr nachbesetzt werden. Die einzige Ausnahme ist meine Stelle als Koordinatorin, die wird, wenn ich jetzt im Dezember in Pension gehe, nachbesetzt werden. – Wir waren ursprünglich acht Kollegen, und 2020 – so das Ziel – werden wir nur noch vier Kollegen sein. In Zukunft werden wir seltener Veranstaltungen in Klassen oder direkt mit Lehrern und Eltern machen, sondern unsere Präventionsarbeit wird sich darauf konzentrieren, Multiplikatoren, zum Beispiel Lehrer und Eltern, auszubilden. Außerdem soll ein Teil unserer Arbeit von den Revierpolizisten übernommen werden. Es gibt ja bereits jetzt eine gut funktionierende Partnerschaft zwischen Schule und Polizei, die hauptsächlich von den Revierpolizisten getragen wird. Eine weitere Überlegung im Zuge der Reform ist, ob die Puppenbühne, mit der wir in Kitas das richtige Verhalten im Straßenverkehr und in Gefahrensituationen üben, weiter existieren soll. Aber wir sagen: Die darf auf keinen Fall weg! Denn die Puppenbühne ist der erste Kontakt, den Kinder mit der Polizei haben; und das ist ein positiver. Meist sind die Kontakte, die Kinder mit der Polizei haben, ja relativ negativer Art. – Derzeit werden durchaus einige Dinge diskutiert, aber: Bereits 2014 wird die Polizeireform das erste Mal evaluiert werden, und ich bin mir sicher – und ich bin jetzt 40 Jahre dabei – da wird es einiges geben, was man wieder auf die Füße stellt.
Was ist aus Ihrer Sicht ein aktuelles Thema im Kinderschutz?
Wenn ich die Frage von der polizeilichen Seite beantworte, dann ist es Repression: alles, wo Kinder geschädigt werden und die Opfer sind. Mobbing unter Kindern und Jugendlichen ist hier ein großes Thema, mit dem schon die ganz Kleinen konfrontiert sind. Aber es passiert auch viel im engsten Bezugsfeld, innerhalb der Familie, was nicht gut ist fürs Kind und in Straftaten endet: Verletzung der Erziehungspflichten, Misshandlungen, Körperverletzung. Und es gibt den großen Bereich des sexuellen Missbrauchs. – Es gab mal eine Zeit, in der propagiert wurde, dass auch der Präventionsbereich der Polizei mit dem Thema sexueller Missbrauch an die Kinder herangeht. Wir haben lange darüber diskutiert und haben uns dann hier in Potsdam dazu entschlossen: Wir machen das nicht. Grund: Wir sind dafür nicht ausgebildet. Wenn ich zum Beispiel in einer dritten Klasse über sexuellen Missbrauch spreche, hätte ich überhaupt nicht die Fachkenntnisse, um im Einzelfall gegeben falls hinterher etwas therapeutisch auffangen zu können. Und aus der Kooperation mit Außenstehenden, die sich mit dem Thema befassen – wie zum Beispiel STIBB e.V. – wissen wir, dass in einem solchen Fall wirklich sofort etwas passieren muss. Und das können wir als Polizei nicht leisten. – Deshalb haben wir uns entschlossen, ein Programm zu fahren, das ich vor etwa zehn Jahren durch einen Zufall bei der Kölner Polizei entdeckt habe. Dieses Programm hat mich so fasziniert, dass ich gesagt habe: Das ist es! Wir fassen es unter dem Namen „Distanz zu Fremden – keine Gewalt gegen Kinder“. Es ist eine Art Verhaltenstraining, das wir in Rollenspielen absolvieren: Was sollen Kinder tun im Verhalten, im Auftreten gegenüber fremden Personen? Dem Programm liegt die Tatsache zugrunde, dass es wenige sexuelle Missbrauchshandlungen gibt, die für das Opfer tödlich enden. Sexueller Missbrauch kommt meist aus der Beziehung, aus dem Umfeld heraus. In den überwiegenden Fällen kennen die Kinder die Täter. Sexueller Missbrauch durch Fremde macht weniger als ein Prozent aus.
Wie sieht das Programm konkret aus? Welche Situationen werden zum Beispiel geübt?
Vorrang hat bei dem Programm das Aufzeigen und Trainieren von Lösungsmöglichkeiten: freundliche aber rigorose, pragmatische Handlungsanleitungen für Kinder, um Gefahrensituation auszuweichen. In Rollenspielen trainieren wir mit den Klassen Alltagssituationen. Beispiel: Ein Kind wird aus dem Auto heraus angesprochen und nach dem Weg gefragt. Hier sollten Kinder nicht näher an den Wagen herangehen, sondern aus sicher Distanz, vom Bürgersteig her sagen: „Fragen Sie bitte den nächsten Erwachsenen.“ Ergebnis: Das Kind ist höflich geblieben, hat eine vernünftige Antwort gegeben. Aber es lässt sich nicht näher auf ein Gespräch ein, das dazu führen könnte, dass es in das Auto einsteigt. Andere Situation: Das Kind ist allein zuhause, und das Telefon klingelt. Am anderen Ende der Leitung sagt jemand: „Ich würde gern mit Deinem Vater oder Deiner Mutter sprechen.“ Das Kind könnte vielleicht antworten: „Papa kann gerade nicht, der sitzt in der Badewanne.“ Aber nun wollen wir Kinder nicht zu Lügen anhalten, und die Kollegen in Köln haben eine viel bessere Lösung gefunden. Das Kind kann antworten: „Sagen Sie mir bitte Ihren Namen und Ihre Telefonnummer. Meine Eltern rufen Sie gleich zurück.“ Diese Antwort ist fundiert, sie ist prägnant, kurz und bündig. – Mit dem Programm gehen wir in die Grundschulen, in die erste bis zur dritten Klasse oder punktuell, wenn es einen bestimmten Anlass gibt, auch noch danach. Wir machen auch nicht in jeder Klasse jede Baustelle auf, sondern besprechen im Vorfeld mit Lehrern und Eltern, ob konkrete Gefahren bestehen. In der fünften Klasse ist das zum Beispiel oft die Situation an der Bushaltestelle. Das Kind wird von einem Erwachsenen angesprochen: „Ist die 92 schon durch?“ Hier üben wir mit den Kindern die Situation richtig einzuschätzen. Also, will der wirklich nur wissen, ob der Bus noch kommt, oder ist etwas komisch und es ist besser, ich gehe weg und stell mich ein Stück weiter hin.
Löst die Auseinandersetzung mit diesen Themen nicht auch Ängste bei den Kindern aus?
Nein, im Gegenteil, das Programm stabilisiert Kinder. Wir sprechen die Gefahren nicht an, denn die Kinder sollen nicht verunsichert werden. Und von selbst hinterfragen die Kinder nie, warum sie das machen sollen, oder was der Hintergrund des Trainings ist. – Die sind so fasziniert von dem Rollenspiel!
Was war ein wichtiges Ereignis oder Erlebnis in Ihrem Leben, privat oder beruflich?
Ich war jung, als ich mich entschlossen habe, Polizistin zu werden: direkt nach dem Abitur, mit 19 Jahren. Ursprünglich wollte ich Lehrerin werden, aber damals 1972, war kein Bedarf an Lehrer für Sprachen, und das wär meins gewesen, sondern nur für Naturwissenschaften. Der damalige Abschnittsbevollmächtige – heute ist das der Revierpolizist – wollte eigentlich meinen Bruder anwerben. Der kam damals gerade von der Armee. Und meine Mutter antwortete dem ABV: „Lass den Jungen mal in Ruhe, der hat die Uniform gerade erst ausgezogen. Aber wir haben hier noch eene, die weiß noch nicht so richtig…“ – Wir wohnten schräg gegenüber vom Kreisamt und dann bin ich da rüber… Ich erinnere mich noch genau an den ersten Tag: Am 1. September 1972 habe ich angefangen. Und nun zum Jahresende werde ich nachhause gehen, also pensioniert werden. Ich weiß nicht, wo die Jahre geblieben sind. Ich weiß es nicht… Ich kann auf jeden Fall behaupten, dass ich ein erfülltes Berufsleben hatte, nie langweilig, aber teilweise auch unberechenbar. Ich weiß, dass ich das nur leisten konnte, weil meine Familie mir immer den Rücken frei gehalten hat.
Ein Blick in die Zukunft: Was wünschen Sie sich für die Kinderschutzarbeit? Haben Sie einen Wunsch oder eine Vision?
Ich würde mir wünschen, dass Projekte im Kinderschutz besser unterstützt würden; allgemein finanziell, aber auch, dass man Projekte nicht nach zwei Jahren wieder einstampft. Ich wünsche mir außerdem, dass bei Gewalt besser hingeguckt wird. Sie haben es heute immer noch mit Menschen zu tun, die sagen: „Ist nicht meine Sache. Ist nicht mein Kind. Geht mich nichts an.“ Viele haben auch Angst vor den Folgen: „Jetzt melde ich das dem Jugendamt, und dann zeigen mich die betroffenen Eltern an wegen falscher Beschuldigung.“ Also, dieser Rechtsanwalt, den viele dann im Hinterkopf haben, der spielt eine ganz große Rolle. Deshalb wünsche ich mir, dass die Leute noch mehr sensibilisiert und ermutigt werden, Zivilcourage zu zeigen und etwas zu unternehmen, wenn Kinder in Not sind.
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Renate Michael spielt den Gelben Ball weiter an Petra Gerlach vom Kinderklub „Unser Haus“ im Potsdamer Stadtteil Schlaatz:
Ich kenne die Arbeit vom Kinderklub aus vielen gemeinsamen Projekten. Das Konzept und das Engagement der Mitarbeiter beeindrucken mich; hervorzuheben ist die intensive Familienarbeit.
Renate Michael will von Petra Gerlach wissen:
Was empfindet sie, wenn sie sich die Entwicklung des Hauses in den letzten fünf Jahren anschaut? Und was sind ihre Wünsche für die Zukunft?